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Noch ein Jahrzehnt − das Zeitfenster schrumpft

5274 Zuletzt geändert vom Autor am 30/04/2020 - 11:00
Noch ein Jahrzehnt − das Zeitfenster schrumpft

Verschärfte Klimaprognosen, ein begrenztes CO2-Budget und eine massive Zunahme der öffentlichen Aufmerksamkeit: Die letzten zehn Jahre waren ereignis- und aufschlussreich. In diesem Umfeld hat sich die DGNB weiterentwickelt und steht 2020 vor ganz neuen Herausforderungen.

Autor: Prof. Alexander Rudolphi, DGNB Präsident

Wenn ich auf die letzten zehn Jahre im Gebäudesektor blicke, sehe ich eine Fachöffentlichkeit, die etwas geschafft hat, wovon wir heute und in den nächsten Jahren stark profitieren werden. Mit ihren Mitgliedern, Partnern und Experten hat die DGNB Instrumente entwickelt, die sich in der Praxis bewährt haben und bessere, zukunftsfähige Gebäude hervorbringen. Das zeigen die Erfahrungen aus mehr als 5000 zertifizierten Projekten. Heute gehen wir mit einer Selbstverständlichkeit mit Ökobilanzen, Fragen nach Material- und Produkteigenschaften und der Verfügbarkeit sowie Bewertung von Daten um, die wie vor zehn Jahren nicht hatten.

Gleichzeitig hat die Dringlichkeit des Klimaschutzes zugenommen. Mit jedem Jahr verschärfen sich die Zielsetzungen weiter. Unsere Klimaforscher müssen ihre Prognosen ständig anpassen und uns erreicht eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Der Klimanotstand ist sichtbar.  Seit Paris haben wir jedoch Benchmarks und klare Zahlen, an denen sich die Weltgemeinschaft orientieren kann. 420 Gigatonnen CO2 bleiben uns, wenn wir wenigstens das – ebenfalls folgenreiche – 1,5-Grad-Ziel einhalten wollen. Für den Gebäudesektor bei uns in Deutschland heißt das: ca. 50 Millionen Tonnen CO2-Einsparung jedes Jahr – bereits bis 2030 (!). Eine wesentliche Rolle wird die Sanierung von Bestandsgebäuden spielen. Die Größe dieser Aufgabe wird deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen, dass eine einzige durchschnittliche Wohnungssanierung eine Ersparnis von 3-4 Tonnen CO2 /Jahr bringt.

Leider ist die Politik hier nach wie vor unser größtes Problem. Anstatt die oben genannten Zielgrößen und Indikatoren in den Regelwerken neu zu verankern, schraubt sie an längst veralteten Instrumenten herum, Stichwort Gebäudeenergiegesetz: Dazu mehr im letzten Absatz.

Nicht zuletzt hat die öffentliche Aufmerksamkeit sich massiv verstärkt. Bedingt durch die Berichte aus der Forschung und durch Bewegungen wie Fridays for future. Das bereitet den Boden für unsere Konzepte und Forderungen.

Der Schritt zur Nachhaltigkeit als „neuem Normal“ ist noch nicht gegangen

Trotz der Dringlichkeit und trotz großer Fortschritte in der Bau- und Immobilienbranche: Den Schritt zur Nachhaltigkeit als neuem „Normal“ sind wir in den letzten zehn Jahren noch nicht gegangen! Immerhin, laut BNP Paribas Real Estate, fließen 22 Prozent des investierten Kapitals beim gewerblichen Bau bereits heute in zertifizierte Gebäude. Das ist bereits ein großer Anteil, aber noch nicht die Mehrheit und gilt vor allem nur für den Neubau. Etwa 50 Prozent des Gebäudebestandes in Deutschland ist mit einem Endenergieverbrauch von 180 – 250 kWh/m² auf einem sehr schlechten energetischen Niveau. Hier liegt die große Herausforderung und zugleich ein realistisches und wirksames Einsparpotenzial.

22 Prozent des Investitionsvolumens fließt 2018 bei gewerblichen Immobilien in Green Buildings // Studie: „Investmentmarkt Green Buildings 2019“ von BNP Paribas Real Estate

Wir brauchen die Politik…

Um den Schritt zum Normal zu schaffen, brauchen wir entsprechende Normen und Regelwerke. Solange entscheidende Zielgrößen wie Umweltwirkungen und Lebenszyklusbetrachtung nicht gesetzlich in Form von Förderungs- und Genehmigungsanforderungen verankert sind, ist unser Tun ein freiwilliges Bemühen. Dieses Bemühen mit all den wichtigen Entwicklungen, Pilotprojekten und vielen guten Beispielen steht auf der einen Seite, das „Normal“ mit seinen Standards in den Planungs- und Genehmigungsprozessen auf der anderen. Wir brauchen die Politik zur Regelsetzung in unserem Umfeld. Und diese Regelsetzung muss den Zielen, die sich in den letzten Jahren stark verändert haben, entsprechen.

… und die Instrumente und Anreize!

Ein weiterer wichtiger Grund, warum der Schritt zum Normalen noch nicht gelingt, liegt in der Handlungsfähigkeit der Menschen. Dafür bedarf es der nötigen Anreize wie beispielsweise der Belohnung für eingesparte Tonnen CO2. Dafür bedarf es aber auch der richtigen Instrumente. Denn bei all den Zielen, Anforderungen und Notwendigkeiten, die gerade im Hinblick auf 2030 im Raum stehen, beobachte ich eine große Überforderung der Menschen. Mit unseren Systemen für den Gebäudesektor sind wir hier gut vorbereitet. Wir bieten einen Katalog aus Arbeitsschritten, der das leistet, was ein einzelner Kopf nicht leisten kann. Und der im Ergebnis eine befriedigende Eintreffwahrscheinlichkeit hat. Durch klare Maßnahmen und die Messbarkeit!

Ausblick: Unsere Themen

In diesem Spannungsfeld zwischen politischer Regulierung und dem Handeln sehe ich für uns als DGNB mit Blick auf die nächsten Jahre große Herausforderungen. Wir müssen die Entscheidungsträger davon überzeugen, mit einer schnellstmöglichen Geschwindigkeit die grundlegenden Anforderungen des nachhaltigen Bauens und Sanierens umzusetzen. Das Ziel: Nachhaltigere und vor allem auch werthaltigere Gebäude. Und wir müssen dabei die Öffentlichkeit mitnehmen. Denn wir leben – zum Glück – in einer Demokratie. Wir brauchen die öffentliche Mehrheitsfähigkeit und Akzeptanz von wichtigen Schritten, die wir politisch einfordern!

Auf der anderen Seite müssen wir unsere Bewertungsinstrumente weiter vereinfachen, sodass sie in den Alltag einziehen. Sei es die Ökobilanzierung, Lebenszyklusbetrachtung oder bei Themen wie der Kreislaufwirtschaft. Ich denke an selbsterklärende Programme mit gut hinterlegten Daten, die eine einfache und schnelle Planung und Prüfung ermöglichen und für jedermann verständlich sind. Nicht zuletzt ist es enorm wichtig, dass wir Innovationen fördern. Denn mit den herkömmlichen Technologien können unsere Klimaschutzziele nicht erreicht werden. Schon Einstein hat gesagt: „Wir können die Probleme nicht mit den Instrumenten lösen, die zu den Problemen geführt haben.“

Zwingende Ziele: Es geht ums Überleben

Dass diese Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zwingend sind, steht für mich außer Frage. Ganz einfach, weil es spätestens für unsere Kinder ums Überleben geht. Heute schummeln wir uns gerade noch so durch, in zehn Jahren fliegen uns die Ziele dann um die Ohren. Ob wir diese erreichen, macht mir weniger Sorgen als das „wie“. Denn wenn die Not größer wird, wenn wir Abwehrmaßnahmen nicht mehr rechtzeitig schaffen oder finanzieren können: Wie friedlich, sozialverträglich und gerecht wird es dann zugehen? Wir brauchen eine demokratische Grundstruktur als Basis einer wirklich nachhaltigen Entwicklung. Wir brauchen die Grundzufriedenheit und die Existenzmöglichkeit aller Menschen.

In meiner Funktion in der DGNB habe ich eine Art Berufsoptimismus. Ich bin optimistisch, weil wir in den letzten Jahren dank des Engagements vieler Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit hatten, die notwendigen Instrumente zu entwickeln und praxistauglich vorzubereiten. Wir konnten auf die Fragen und Anforderungen aus Paris sofort reagieren und haben die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) in kurzer Zeit in unserem System verankert. Eben weil diese Ziele von Beginn an in unserer ganzheitlichen Bewertungsstrategie angelegt und berücksichtigt waren. Das zeigt mir, dass wir hier gut vorbereitet sind.

sustainable development goals

Jedes DGNB zertifizierte Projekt kann eine Aussage darüber treffen, inwieweit es einen Beitrag zur Erreichung der SDGs geleistet hat.

Die Bremswirkung der Ordnungspolitik

Diesen Satz habe ich schon oft gehört: unsere Forderungen seien ordnungspolitisch nicht umsetzbar. Mal abgesehen von der Frage, wer eigentlich die Ordnungspolitik bestimmt, können wir uns ein solches Einknicken vor überkommenen Regeln nicht mehr leisten. Das betrifft z.B. das zurzeit im Bundestag verhandelte Gebäudeenergiegesetz GEG. Mit der gegenwärtigen Fassung wird eine wesentliche Chance zur Erfüllung unserer Klimaschutzziele vertan. Die Strukturen und Zielgrößen der bisherigen Energieeinsparverordnung werden bis auf weiteres fortgeschrieben: Verlorene wertvolle Zeit! Wenn es denn also unmöglich erscheint, die bisherigen und nicht mehr zukunftsfähigen Regeln über Bord zu werfen, schlage ich vor, einfach einen zweiten Weg für die Genehmigung, Förderung und Bewertung von Gebäuden zu eröffnen. Einen Weg mit klaren und auf die Klimawirkung bezogenen Zielen, der sowohl die für das Bauen benötigten Ressourcen als auch die sozialen Anforderungen einbezieht – also den vollständigen Lebenszyklus erfasst. Einen Weg, der die Bereitstellung von Energie realistisch bilanziert und sich vor allem am gesetzten Einsparungsziel orientiert und nicht an irgendwelchen Referenzgrößen.

Dann könnten die Menschen ohne doppelte Arbeit und mit Planungssicherheit selbst entscheiden. Das mindestens müsste doch möglich sein.

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Verfasst von

Witali Riffel

Moderator

Alice Dupuy

Responsable développement partenarial